„Jede Geschichte zählt“ lautet das Motto der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Was sie für Betroffene bewegen möchte, darüber sprachen wir mit Kommissionsmitglied Barbara Kavemann.
Wir wollen aus der Aufarbeitung lernen
Über Barbara Kavemann
Barbara Kavemann forscht seit den 1980er-Jahren zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie zu Präventionskonzepten gegen Missbrauch. Die Perspektive der Betroffenen und die Frage, was sie in ihrem Leben unterstützen kann, hat die Forscherin schon immer besonders interessiert.
Frau Kavemann, was genau sind die Aufgaben der Kommission und was möchte sie erreichen?
Unser Auftrag ist es, zurückzuschauen und die Aufarbeitung voranzubringen. Dazu untersuchen wir sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR ab 1949. Wir wollen gesellschaftlich sichtbar machen, was falsch gelaufen ist. Was an Unrecht passiert ist, welches Leid verursacht wurde und welche Folgen dieses Leid für das ganze Leben haben kann. Deswegen schauen wir uns bestimmte gesellschaftliche Bereiche an, wie zum Beispiel die Heimerziehung, die Kirchen oder die Schulen. Diese Institutionen mahnen wir an, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Auch sexualisierte Gewalt durch Familienangehörige untersuchen wir. Im Interesse der Betroffenen machen wir sichtbar, was passiert ist. Unser Ziel ist es, ihre Stimmen noch hörbarer zu machen.
Welche Möglichkeiten bieten Sie Betroffenen, ihre Geschichte zu erzählen?
Betroffene, aber auch Zeitzeuginnen und -zeugen, wie Familienmitglieder, Lehrkräfte oder Therapeutinnen und Therapeuten, können sich für eine vertrauliche Anhörung oder mit einem schriftlichen Bericht an uns wenden. Welchen Weg die Menschen wählen, entscheiden sie ganz individuell.
Auf welchen Wegen können Menschen sich für eine Anhörung melden?
Der erste Kontakt findet über unser Büro statt. Dort beantworten die Fachkräfte Fragen danach, wie eine Anhörung funktioniert, wie geschützt man ist und wo die Anhörung stattfindet. Wir sind sieben Ehrenamtliche in der Kommission. Wir können nicht den gesamten Bedarf an Anhörungen stemmen. Deshalb haben wir 20 Anhörungsbeauftragte im gesamten Bundesgebiet. So halten wir die Wege für die Betroffenen kurz. Die anhörenden Anwältinnen und Anwälte haben eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Wir führen auch gemeinsam mit ihnen Anhörungen durch.
Wir wollen aus den Geschichten lernen. Das ist das zentrale Moment von Aufarbeitung: Der Blick zurück soll uns eine Basis geben, um für das Heute und für die Zukunft zu lernen.
Was bewegt Betroffene dazu, ihre eigene Geschichte zu teilen?
Es gibt einen starken Wunsch, das Erlebte einer offiziellen Stelle mitzuteilen. Das ist eine andere Ebene, als es im privaten Bereich zu teilen. Und es ist eine Form, das Geschehene öffentlich zu machen. Für manche gibt es das Motiv, die eigenen Erfahrungen gerade hier zu erzählen, weil es woanders nicht geht. Weil es für sie in der Familie oder am Arbeitsplatz zu ungewollten Konsequenzen führen könnte, wenn bekannt wird, dass sie als Kind diese Gewalt erlebt haben. Die hochgradig vertrauliche und geschützte Ebene des Sprechens mit uns ermöglicht es vielen, die keine anderen Räume dafür finden. Die Kommission ist eine berufene Stelle, die stellvertretend für die Gesellschaft anhört. Einmal sagte eine Betroffene zu mir: „Ich fühle mich jetzt wieder als Teil dieser Gesellschaft.“ Diese Art des Gehörtwerdens bewirkt und verändert also etwas.
Wie läuft die vertrauliche Anhörung ab?
Wir schicken den Betroffenen vorab Informationen zu, damit sie wissen, was sie erwartet. Anhörungen werden immer zu zweit durchgeführt: in der Regel durch ein Kommissionsmitglied und eine Anhörungsbeauftragte oder einen Anhörungsbeauftragten. Manchmal sind auch zwei Anhörungsbeauftragte dabei. Eine Fachberatungsstelle steht im Hintergrund bereit, falls die Angehörten gleich vor oder nach der Anhörung ein Beratungsgespräch wünschen. Sie können gerne eine Vertrauensperson mitbringen. Manchmal war es ein Hund. Wir informieren auch vorab, was wir gerne wissen würden. Uns interessiert zum Beispiel, was sie erlebt haben, wie ihre Kindheit war und was ihnen geholfen hat oder geholfen hätte. Wir wollen aus der Aufarbeitung und ihren Geschichten lernen. Der Blick zurück soll uns eine Basis geben, um für das Heute und für die Zukunft zu lernen. Und wir fragen auch, wie es für die Person weitergegangen ist, was sie heute braucht und was ihre Forderungen sind. Aber die Betroffenen entscheiden, was sie uns erzählen möchten.
Welche Effekte kann eine Anhörung für Betroffene haben?
Mehrheitlich erleben wir, dass Anhörungen einen befreienden, entlastenden Effekt haben. Die Betroffenen können sich darauf verlassen, dass wir das Leid hören können. Das fehlt vielen Menschen im Alltag. Sie muten ihre Geschichte nicht jedem zu, weil sie wissen, dass sie belastend ist. Bei uns erfahren sie: Wir halten das aus. Die Anhörungen sind übrigens nicht immer bedrückend. Wir können auch mal zusammen lachen. Das muss dem Leid und der Anerkennung nicht entgegenstehen.
Was machen Sie mit den Ergebnissen der Anhörungen und Berichte?
Einen Teil davon veröffentlichen wir anonymisiert und mit Zustimmung der Betroffenen auf unserer Webseite. Wir wollen die Vielfalt, aber auch die Ähnlichkeiten verdeutlichen. Die Geschichten anderer Betroffener zu lesen, kann sehr hilfreich sein. Und es ist eine wichtige Information für Menschen, die beruflich in diesem Themenfeld tätig sind. Darüber hinaus fließen die Geschichten auch in die Forschung ein, deren Ergebnisse wir online für alle kostenlos zugänglich veröffentlichen.
Bekommen Sie auch Feedback aus den Anhörungen?
Meistens sprechen wir in der Anhörung selbst darüber und fragen: „Wie ist das Gespräch für Sie gelaufen?“ Manchmal kommt die Rückmeldung: „Das hat gutgetan.“ oder „Das hat mich sehr entlastet, darüber zu sprechen.“ Manche Rückmeldungen sind auch kritisch. Das hat damit zu tun, dass eine Anhörung nicht mehr sein kann als eine Anhörung. Wir können das Leben der Betroffenen nicht ändern, keine Verfahren zum Opferentschädigungsrecht beschleunigen oder eine Verlängerung der Therapie erreichen. Aber wir können zuhören, ernst nehmen und Anerkennung geben, dass das Geschehen Unrecht war.
Was konnte die Kommission bislang erreichen?
Wir haben zum Beispiel öffentliche Hearings durchgeführt zu Themen wie sexueller Missbrauch in Familien, in der DDR, in der Kirche oder im Sport. Damit konnten wir die Gesellschaft für das Thema sexueller Missbrauch sensibilisieren, informieren und das Bewusstsein von Institutionen, Behörden und Vereinen für die Übernahme von Verantwortung schärfen. Wir haben Empfehlungen für die Aufarbeitung in Institutionen herausgegeben. Regelmäßig veröffentlichen wir die Ergebnisse unserer Arbeit, haben Forschung angestoßen und ausgeführt. Durch die Anhörungen Betroffener konnten wir Erkenntnisse erlangen, mit denen wir die Präventionsarbeit unterstützen können. Diese Dynamik empfinde ich bei allen Rückschlägen und aller Mühe als beflügelnd.
Was macht Ihnen in Bezug auf Ihre Arbeit Mut?
Da gibt es ganz vieles! Besonders wichtig sind mir die vertraulichen Anhörungen. Betroffene zeigen dabei viel Mut und Lebensstärke. Und sie organisieren sich mehr und mehr. Das alles ist einfach bewundernswert!
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