Sexualisierte Gewalt findet in allen gesellschaftlichen Schichten statt – auch dort, wo sie niemand vermutet. Müssen wir deshalb lernen, genauer hinzusehen? „Ja“, sagt Lisa Fahrig. Als Mitglied des Betroffenenrats und Ärztin möchte sie dazu beitragen.
Die Gesellschaft muss hinter die Fassade schauen
Über Lisa Fahrig
Lisa Fahrig lebt in der Schweiz und arbeitet als Assistenzärztin. Seit 2020 unterstützt sie den Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Sie engagieren sich seit 2020 als Mitglied im Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Was möchten Sie damit erreichen, Frau Fahrig?
Ich finde es wichtig, dass die Gesellschaft lernt, über dieses vollkommen tabuisierte Thema zu sprechen. Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, dass die Leute begreifen, dass sexualisierte Gewalt nicht nur in sozial schwachen Familien stattfindet. Es gibt sie überall – auch in Richter:innen-, Ärzt:innen- oder in Pfarrer:innen-Familien. Ich habe als Kind sexualisierte und psychische Gewalt in der Familie erlebt und mein Vater war selbst Arzt. Nach außen wirkten wir vermutlich eher wie eine normale, gutbürgerliche Familie. Keiner hätte vermutet, dass hier Gewalt stattfindet. Solche Familien bilden eine richtige Schutzmauer für die Täter:innen. Für die Betroffenen ist es dadurch fast unmöglich, Hilfe zu bekommen.
Wie und wann haben Sie es geschafft, sich Hilfe zu holen?
Wie viele Betroffene habe auch ich meine Erinnerungen lange Zeit verdrängt. Ich dachte: „Das war schon nicht so schlimm.“ Dass ich sexuellen Missbrauch erlebt hatte, habe ich erst mit etwa 18 Jahren realisiert. Meine Freund:innen haben mir bei der Aufarbeitung sehr geholfen. Sie glaubten mir, sie gaben mir den Raum, zu erzählen. Der Missbrauch wurde mir im Gespräch mit einer Freundin und auch über meine körperlichen Symptome bewusst. Mein Bauch schmerzte zum Beispiel bei Themen, die mit sexualisierter Gewalt zu tun hatten. Das erinnerte mich daran, dass ich auch als Kind schon Bauschmerzen hatte, wenn ich bei den Tätern war. Als mir all das bewusst wurde, war ich unglaublich verzweifelt und deprimiert. Das hat mich dazu bewogen, mich in therapeutische Hilfe zu begeben.
Wie ging es dann weiter?
Anfänglich haben die Therapeut:innen das eigentliche Problem gar nicht erkannt. Eine Freundin ermutigte mich schließlich, in eine Traumaklinik zu gehen. Ich dachte, ich könnte alles in sechs Wochen aufarbeiten. Dann habe ich gemerkt, dass ich mehr Zeit brauche und entschloss mich, ein Freisemester zu nehmen. In der Klinik konnte ich das Erlebte zum ersten Mal in Worte fassen. Besonders die Körpertherapie hat mir geholfen, die Traumata zu realisieren und zu verarbeiten.
Was hätte Ihnen als Kind geholfen? Was hätten Sie sich von Ihrem Umfeld gewünscht?
Ich hätte mir gewünscht, dass die Menschen aus meinem Umfeld mich einfach mal fragen, wie es mir geht und ob zu Hause alles in Ordnung ist. Es gab so viele Momente in meinem Leben, in denen deutlich wurde, dass mit mir etwas nicht stimmt. Als Jugendliche habe ich versucht, meine Not und meinen Frust mit Alkohol zu betäuben. Als ich gerade einmal 13 Jahre alt war, kam ich sogar wegen einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Dort wurde mir gesagt: „Ihr Vater ist ja Fachmann. Da brauchen wir das psychologische Gespräch nicht.“ Am allermeisten hätte mir jedoch geholfen, wenn meine Mutter den Mut gehabt hätte, meinen Vater mit uns Kindern zu verlassen. Aber leider war sie selbst in ihrer eigenen Geschichte gefangen.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Menschen aus meinem Umfeld mich einfach mal fragen, wie es mir geht und ob zu Hause alles in Ordnung ist. Es gab so viele Momente in meinem Leben, in denen deutlich wurde, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Müssen wir als Gesellschaft lernen, bei einem Verdacht genauer hinzuschauen?
Für das Umfeld ist sexueller Missbrauch extrem schwierig wahrzunehmen. Es gibt so viele mögliche Symptome und Auffälligkeiten, aber eben auch völlig angepasste Kinder, denen man nichts anmerkt. Die Gesellschaft muss die Augen öffnen für das breite Spektrum an Alarmsignalen. Dass die Menschen den Mut haben, ihre Nachbarn zu fragen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist. Dass sie nicht nur in ihren eigenen vier Wänden denken, sondern dass sie klingeln, wenn es über ihnen schreit. Dass übertriebener Ehrgeiz und eine übermäßige Leistungsbereitschaft genauso auf sexualisierte Gewalt hinweisen können, wie Zurückgezogenheit oder Traurigkeit. Oft hat man dieses Bauchgefühl, dem man vertrauen sollte.
Sie arbeiten inzwischen als Ärztin. Was bedeutet es für Sie, anderen Menschen zu helfen?
Vor allem am Anfang meiner Entwicklung fiel es mir leichter, anderen zu helfen, als für mich selbst da zu sein. So musste ich mich nicht mit mir selbst beschäftigen. Das hat sich glücklicherweise verändert. Heute erfüllt es mich, den Menschen hinter den Patient:innen mit allen Facetten zu sehen. Ich möchte eine Ärztin sein, die nicht nur Symptome bekämpft, sondern die Menschen ganzheitlich sieht und behandelt.
Welche Rolle kann die Medizin spielen, um Betroffene zu schützen?
Medizinische Anlaufstellen wie Arztpraxen, Ambulanzen oder Kliniken können ein Schutzraum sein. Krankenhäuser oder Psychiatrien geben uns die Möglichkeit, Personen stationär aufzunehmen, um sie vor ihrem Umfeld zu schützen und bessere Anschlusslösungen für sie zu finden. Durch den engen Kontakt mit den Patient:innen bekomme ich vielleicht den ein oder anderen Hinweis, der mich hinter die Fassade blicken lässt. Aber in der Hektik des Klinikalltags ist es natürlich schwierig, diese Zeichen richtig zu deuten. Wenn es eindeutige Indizien gibt, sollten Ärzt:innen Kinderschutzbeauftragte einschalten. Auch die Medizinische Kinderschutzhotline ist eine gute erste Anlaufstelle. Gleichzeitig stellt der Gesundheitssektor leider auch einen Risikoraum dar.
Inwiefern?
Im Gesundheitssystem haben einzelne Menschen viel Macht. Die Gesellschaft vertraut ihnen. Sie sieht nicht, dass sexualisierte Gewalt auch in diesem Kontext stattfindet – obwohl es auch hier viele Beispiele für Machtmissbrauch gibt. Deswegen brauchen wir in der Medizin und Psychotherapie gut durchdachte Schutzkonzepte.
Was macht Ihnen Mut?
Die Arbeit im Betroffenenrat und der Kontakt zu anderen Betroffenen machen mir Mut. Das sind alles wunderbare Menschen, die so viel Lebensmut und Liebe in die Welt bringen – trotz allem, was ihnen passiert ist. Ich habe das Gefühl, dass dieses Aktivwerden gegen sexualisierte Gewalt uns aus der Hilflosigkeit herausholt. Es verleiht mir ganz viel Auftrieb, dass ich die schlechten Erfahrungen in etwas Positives ummünzen kann.
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