Sexueller Missbrauch hinterlässt Spuren. Viele Betroffene brauchen jahrelang, um das Erlebte zu verarbeiten. Doch der Weg lohne sich, sagt Nicolas Haaf. Ein Gespräch über seine Erfahrungen als Betroffener und das Verhältnis zur eigenen Männlichkeit.

Es ist wichtig, dieses Gift rauszulassen

Über Nicolas Haaf

Nicolas Haaf lebt und arbeitet als Freiberufler in Hamburg. Er ist seit 2020 Mitglied des Betroffenenrats bei der Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch. In dem Gremium engagieren sich Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erfahren haben. Sie setzen sich für die Belange von Betroffenen ein und geben dem Thema ein Gesicht und eine Stimme.

Wenn es um sexuellen Missbrauch geht, sprechen wir von Betroffenen, Opfern oder auch Überlebenden. Welchen Begriff würden Sie für sich wählen, Herr Haaf?

Im Englischen gibt es die Ausdrücke Victim, Survivor, Thriver. Also Opfer, Überlebender, Gedeihender. Ich bin Opfer gewesen, ich war Überlebender. Aber die Bezeichnung „Gedeihender“ finde ich am treffendsten. Darin sieht man, dass es eine Perspektive, einen Ausweg gibt.

Wann haben Sie sich dazu entschieden, den ersten Schritt zu gehen und Ihre eigene Geschichte jemandem anzuvertrauen?

Mit Anfang 20 hatte ich starke psychische Probleme. Meinem Therapeuten habe ich schon in der dritten oder vierten Sitzung erzählt, was in meinem Leben los war. Das Wort „Missbrauch“ habe ich damals gar nicht benutzt. Mir fehlte das Vokabular für das Erlebte. Eigentlich fing meine Aufarbeitung aber schon früher an. Nämlich mit einem Artikel über Inzest, den ich als Jugendlicher las. Dieser Bericht hat alles ins Rollen gebracht. Im Zusammenspiel mit der Therapie wurde mir dann bewusst: Ich wurde von einer Frau missbraucht.

Wie kamen Sie von dort aus dahin, wo Sie heute stehen?

Ich habe in meinem Leben insgesamt vier Therapien gemacht – konventionelle Gesprächstherapien und zwei Traumatherapien. Und ich hatte dieses wahnsinnige Glück, 2008 in eine Selbsthilfegruppe für männliche Betroffene zu kommen. Dort habe ich Männer getroffen, die auch von Frauen missbraucht wurden. Diese Gruppe zu haben, war für mich der Wendepunkt in meinem Leben.

Was gibt Ihnen heute Kraft?

Ich bin ausgebildeter Musiker, habe eine Meditationsausbildung gemacht und ich mache viel Sport. Die Musik hat mir geholfen und hilft mir immer noch, einen Zugang zu meinen Gefühlen zu halten. Der Sport tut mir gut, um die hohe Spannung aus meinem Körper zu lassen. Und, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen merkwürdig: Ich bin einfach unternehmerisch veranlagt. Das hat mich schon als Jugendlicher gerettet – dass ich immer etwas auf die Beine gestellt habe. Dass ich auf Leute zugegangen bin, dass ich Risiken in Kauf genommen habe. Für mich war diese Eigenschaft extrem wichtig, um aus meiner Ohnmacht herauszukommen. Das Unternehmertum war und ist für mich ein Spielfeld, in dem ich etwas bewegen kann. Ich kann Leuten Grenzen setzen. Ich lasse mir nichts bieten. Ich kann Konflikte austragen.

Bei sexuellem Missbrauch sind Männer meist die Täter. Stießen Sie bei der Aufarbeitung Ihrer Geschichte deshalb auf besondere Widerstände?

Der sexuelle Missbrauch durch eine Frau hat mich in meiner Männlichkeit extrem beschädigt. Damit stand ich über viele Jahre in Konflikt. Das war für mich echt brutal. Mein Männlichkeitsideal war: „Ich bin ein Mann. Ich lasse mir nichts bieten. Ich möchte kein Opfer sein.“ Das war die eine Seite. Die andere hatte wahnsinnige Angst vor Frauen. Das brachte mich in einen Konflikt, in ein ziemlich hohes Spannungsfeld. Ich habe lange gebraucht, um beide Seiten auszusöhnen.

Der sexuelle Missbrauch durch eine Frau hat mich in meiner Männlichkeit extrem beschädigt. Damit stand ich über viele Jahre in Konflikt. Das war für mich echt brutal. Ich habe lange gebraucht, um beide Seiten auszusöhnen

Was half Ihnen bei dieser Aussöhnung?

Die Erkenntnis zu gewinnen, dass meine Verletzlichkeit okay ist. Dass es okay ist, dass ich manchmal Angst habe. Und dass es auch okay ist, unterlegen gewesen zu sein. Dass ich als Kind keine Chance hatte. Ich habe damals das Buch „Als Junge missbraucht“ von Mike Lew gelesen, einem amerikanischen Psychotherapeuten. Er beschreibt dieses Phänomen genau. Das Buch hat mir die Augen geöffnet für den Männlichkeitskonflikt, mit dem ich zu kämpfen hatte. Für mich war es wichtig, zu erkennen, dass die Männlichkeit dadurch nicht beschädigt wird. Man muss seinen eigenen Zugang zu ihr finden.

Worum geht es bei diesem Konflikt im Kern?

Es geht um einen Rollenkonflikt – das Bedürfnis, souverän zu sein, alles unter Kontrolle zu haben. Absolut selbstsicher zu sein. Das war viele Jahre das absolute Bestreben für mich. Irgendwann kam ich an den Punkt, wo ich zusammengebrochen bin. Wo ich gemerkt habe, ich kann das nicht aufrechterhalten. Es war ein Prozess: zu erkennen, dass ich andere, verletzliche Seiten auch zeigen kann. Trotzdem haben mich die Leute nicht als Idioten oder als Weichei wahrgenommen. Im Gegenteil: Es war eher so, dass mich die Verletzlichkeit als Mann vervollständigt hat.

Was kann insbesondere Jungen oder jungen Männern helfen, den ersten Schritt zu gehen und ihre Geschichte jemandem anzuvertrauen?

Wir sollten respektieren, dass Männer Angst vor genau diesem Schritt haben können. Wir sollten Männern und Jungen, die sich öffnen, klarmachen: „Egal, was du mir erzählst – ich habe davor Respekt.“ Ich habe mir das Erlebte zum Beispiel immer kleingeredet, nach dem Motto: „Es war nicht so schlimm. Ich habe es überlebt.“ Sich dann einzugestehen: „Das war überhaupt keine Kleinigkeit, das war massiv.“ Dafür habe ich lange gebraucht.

Woran haben Sie gemerkt, dass es Zeit ist, über den Missbrauch zu sprechen?

Manchmal treten bestimmte Dinge erst durch eine Depression zutage. Wenn man merkt, dass es so nicht weitergeht, muss man sich Hilfe suchen. Es ist sehr wichtig, dieses Gift rauszulassen. Ansonsten kann diese Erfahrung Betroffene schlichtweg einsam machen. Sie sollten diese Einsamkeit durchbrechen, diese Isolation. In welchem Rahmen auch immer – in einer Therapie, in einer Selbsthilfegruppe, mit Menschen, denen man vertraut.

Wo finden Männer Unterstützung, diesen Weg zu beschreiten?

Es macht Sinn, den Weg über eine Traumatherapie zu suchen und auch Fachberatungsstellen zu kontaktieren. Manche Angebote gibt es nicht in der näheren Umgebung, aber man kann sich telefonisch beraten lassen. Als vor 13 Jahren keine Beratung für Männer existierte, habe ich mich an eine Frauenberatungsstelle gewandt. Manchmal muss man es über Bande spielen. Betroffene sollten bereit sein, im Zweifelsfall einen langen Weg zu gehen. Und man darf nicht aufgeben, wenn manche Leute es bagatellisieren.

Haben Sie es jemals bereut, über Ihre eigene Missbrauchserfahrung gesprochen zu haben?

Nein, das habe ich nie bereut. Ich bin es immer extrem offensiv angegangen. Deswegen habe ich mir auch verschiedenste Reaktionen eingehandelt. Das ist als Mann schon schwerer. Weil es passieren kann, dass man nicht ernst genommen wird. Ich habe auch die Frau, die mir das angetan hat, damit konfrontiert. Ich bin den ganzen Weg gegangen.

Was macht Ihnen Mut?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Thema langsam seinen Raum findet und das Tabu aufweicht. Das ist ein riesiges Geschenk. In anderen Ländern spricht keiner darüber. Dass wir in einer Gesellschaft leben, in der das möglich ist, macht mir Mut.

Geschichten, die Mut machen

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Rechtsanwältin

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Pia Witthöft

Leiterin Mutstelle, Lebenshilfe Berlin

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