Es braucht Mut, über das Thema sexualisierte Gewalt zu sprechen. Doch anrufen hilft – davon ist Tanja von Bodelschwingh überzeugt. Ein Gespräch über ihre Arbeit für das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch.

Gemeinsam können wir das Gedankenkarussell kleiner machen

Über Tanja von Bodelschwingh
Tanja von Bodelschwingh ist Sozialpädagogin und im Vorstand von N.I.N.A. e. V. Seit 15 Jahren berät und unterstützt sie Menschen zum Thema sexualisierte Gewalt – telefonisch und inzwischen auch online. Der Verein N.I.N.A. ist unter anderem Träger des bundesweiten Hilfe-Telefons Sexueller Missbrauch.

Frau von Bodelschwingh, wie läuft ein Anruf beim Hilfe-Telefon ab? Was erwartet mich?

Viele, die uns anrufen, sprechen zum ersten Mal mit jemandem über das Thema. Sie haben ihren ganzen Mut zusammengenommen und sind oft auch sehr aufgeregt. Deswegen hören wir am Anfang erst mal nur zu und geben den Anrufenden Raum zu erzählen. In den meisten Gesprächen kommen schon zu Beginn viele Fragen auf: „Woran erkenne ich sexuellen Missbrauch?“ „Was sind die Folgen?“ „Muss ich zur Polizei gehen?“ „Gibt es Hilfe in meiner Nähe?“ Wir beantworten nach Möglichkeit all diese Fragen. Allein das ist für viele Menschen schon eine große Hilfe, bietet Orientierung und baut Unsicherheiten ab.

Wie geht es dann weiter?

Danach sortieren wir gemeinsam die Situation. Dazu gehört, dass wir an der einen oder anderen Stelle nochmal nachfragen, um alles zu verstehen und gut beraten zu können. Wichtig ist: Die Anrufenden erzählen nur, was sie auch erzählen wollen. Wir „bohren“ nicht nach. Anhand der uns vorliegenden Informationen geben wir eine erste fachliche Einschätzung – soweit das am Telefon möglich ist. Wesentlich ist dabei, dass wir die möglichen nächsten Schritte mit den Anrufenden besprechen und eine Brücke zu den Fachberatungsstellen und anderen unterstützenden Ansprechpersonen und Institutionen vor Ort schlagen.

Mit wem spreche ich am Hilfe-Telefon?

Am Hilfe-Telefon sprechen Sie mit pädagogisch und psychologisch ausgebildeten Fachkräften. Alle Beraterinnen und Berater kennen sich sehr gut im Themenbereich aus. Sie bringen außerdem viel Erfahrung in der Beratung und Begleitung von Menschen mit, die selbst betroffen sind, oder als Angehörige und Helfende mit dem Thema konfrontiert werden.

Mut braucht es immer bei diesem sensiblen und persönlichen Thema. Dennoch bin ich überzeugt, dass Anrufen hilft. Es ist ein erster Schritt, ein erstes „Sich trauen“. Und alleine das macht alle weiteren Schritte oft sehr viel leichter.

Welche Menschen rufen bei Ihnen an?

Das ist ganz unterschiedlich und vollkommen unabhängig von Geschlecht und Alter sowie den Berührungspunkten mit dem Thema. So ist es auch gewollt: Unser Angebot richtet sich explizit an alle Menschen, die Fragen und Unsicherheiten zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen haben. Bei uns meldet sich sowohl die Nachbarin, die ein komisches Gefühl oder einen Verdacht hat, als auch die 80-Jährige, die am Telefon erstmals über die sexualisierte Gewalt spricht, die ihr in ihrer Kindheit und Jugend widerfahren ist. Kurzum: Es rufen sowohl Betroffene als auch Helfende an. In den Telefonaten geht es um Stabilisierung und Entlastung, aber auch um konkrete Fragen der Prävention und Intervention. Besonders häufig wenden sich Menschen an uns, die in großer Sorge um ein betroffenes oder ein mutmaßlich betroffenes Kind sind. Sie wissen nicht, was sie zum Schutz des Kindes tun können, oder sie wollen überhaupt mal mit jemandem über diese Situation sprechen. Gerade dann ist ein Anruf beim Hilfe-Telefon sinnvoll. Wer nicht gerne telefoniert, kann uns übrigens auch schreiben.

Wie stellen Sie sicher, dass die Gespräche vertraulich bleiben?

Wir sehen keine Nummer der Anrufenden und haben auch keine Möglichkeit, sie herauszufinden. Wir erfahren nur das von den Menschen, was sie uns erzählen. Niemand muss seinen Namen oder Wohnort nennen und wir fragen auch nicht danach. Wenn wir Hilfen in der Nähe der Anrufenden heraussuchen, dann reicht uns die Region oder das Postleitzahlengebiet. Zudem sind die Inhalte der Gespräche natürlich vertraulich. Das heißt auch, dass wir auch keine Informationen weitergeben, also weder das Jugendamt noch die Polizei informieren. Das ist bei diesem sensiblen Thema besonders wichtig, damit Menschen sich trauen, uns anzurufen.

Was würden Sie Menschen raten, die etwas beobachtet haben, das auf sexuellen Missbrauch hindeuten könnte?

Sie sollten auf jeden Fall dem Verdacht oder dem komischen Gefühl nachgehen, weil sonst nichts passiert. Eine Person, die etwas beobachtet hat oder sich sorgt, muss damit nicht alleine bleiben. Es ist wichtig, sich mit einer Person darüber auszutauschen, die sich mit dem Thema gut auskennt. Wenn sich der Verdacht erhärtet, geht es darum, alle weiteren Schritte sorgsam abzuwägen. Diese können je nach Fall sehr unterschiedlich sein. Häufig ignorieren Menschen sexuellen Missbrauch und schauen an ihm vorbei, weil sie unsicher sind. Da gibt es viele Ängste: „Was ist, wenn ich falsch liege und jemanden zu Unrecht beschuldige?“ All das besprechen wir am Hilfe-Telefon.

Warum ist der Druck so groß und was könnte ihn kleiner machen?

Den Menschen begegnen so viele Mythen beim Thema sexuelle Gewalt. Das erzeugt in hohem Maße Unsicherheit. Hier können wir helfen und informieren. Wichtig ist auch, gemeinsam mit den Anrufenden deren Rolle und Auftrag zu klären. Das klingt im ersten Moment vielleicht komisch: Aber eine Lehrerin, die beispielsweise davon ausgeht, den vermuteten Missbrauch ganz alleine aufdecken und beenden zu müssen, schaut vielleicht doch lieber weg. Der Druck wird zu groß. Im Gespräch können wir das Gedankenkarussell kleiner machen und gemeinsam klären, welche Aufgabe – um beim Beispiel der Lehrerin zu bleiben – wirklich bei ihr liegt und wo es darum geht, Verantwortung abzugeben.

Wie viel Mut braucht es, um bei Ihnen anzurufen und warum hilft es, diesen Mut zusammenzunehmen?

Mut braucht es immer bei einem so ausgesprochen sensiblen und persönlichen Thema. Dennoch bin ich überzeugt, dass anrufen hilft – ob nun bei uns oder bei einer anderen Beratungsstelle. Anrufen ist ein erster Schritt, ein erstes „Sichtrauen“. Und alleine das macht alle weiteren Schritte oft sehr viel leichter. Auch für Menschen, die schon viel versucht haben, sind wir da. Wir haben ein offenes Ohr für alle Ängste und Sorgen.

Sie möchten mehr über das Thema Beratung erfahren? In der Rubrik „Wissenswertes“ finden Sie hilfreiche Informationen.

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